Attentat auf Honecker und andere Besondere Vorkommnisse by Klaus Behling
Autor:Klaus Behling [Behling, Klaus]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Jaron Verlag GmbH
veröffentlicht: 2017-05-29T22:00:00+00:00
Zerstörte Leben
Suizide nach friedlicher Revolution und Wiedervereinigung
Am 11. November 1989 vergiftete sich der Zweite Sekretär der SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt, Lothar W. In seinem Abschiedsbrief schrieb er, dass er mit dieser Welt nicht mehr zurechtkomme und seine Konsequenzen ziehe.
Der Vorsitzende der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG), Helmut D., erschoss sich am 30. Januar 1990 mit seinem Jagdgewehr in Rieder im Nordharz. Der 57-Jährige hinterließ seiner Familie die Nachricht: „Ich habe immer nur gearbeitet für die LPG und die Bauern … Ich trete unschuldig aus diesem Leben …“
Die langjährige Sekretärin des Verlags Volk und Wissen, Renate W., warf sich am 8. November desselben Jahres vor eine S-Bahn. Der Verlust von Arbeitsstelle und Arbeitskollektiv war ihr unerträglich erschienen.
Ein Jahr später, Ende November 1991, übergoss sich die Ärztin Dr. Renate P. aus Annaberg-Buchholz am Aussichtspunkt „Morgensonne“ auf der B 95 mit Benzin und zündete sich an. Der Versuch, eine eigene Praxis zu eröffnen, und damit verbundene finanzielle Probleme hatten die 51-jährige Frau so stark belastet, dass sie depressiv geworden war und keine Lebensperspektive mehr gesehen hatte.
Am 4. März 1992 nahm sich Dr. Detlef D., Gemeindevertreter für Bündnis 90 in Zepernick bei Bernau und Kreistagsabgeordneter, das Leben. Ein Alteigentümer aus dem Westen hatte Ansprüche auf sein Haus angemeldet und recht bekommen. D. schrieb daraufhin in einem offenen Brief an Bundeskanzler Helmut Kohl: „Ein Vermögensabfluss von Ost nach West größten Ausmaßes wurde von Ihrer Partei, den hinter dieser Partei stehenden Kräften und Ihnen persönlich eingeleitet … Wir werden gar nicht mehr gefragt. Aus diesem Grunde, Herr Bundeskanzler, opfere ich mein Leben.“
Doch das waren längst nicht alle Suizidfälle ehemaliger DDR-Bürger nach der friedlichen Revolution. Es ereigneten sich Dutzend weitere, und immer wieder wurden vermeintliche oder tatsächliche Stasi-Verstrickungen als Motiv genannt. Der Potsdamer Rechtsanwalt Peter-Michael Diestel, 1990 letzter Innenminister der DDR in der Regierung de Maizière (CDU), äußerte sich dazu in der Wochenendausgabe vom 27. / 28. Mai 2000 der linken Tageszeitung „Neues Deutschland“: „Wenn man sieht, wie in diesem Land mit den Stasi-Unterlagen Schindluder getrieben wird, hat man einfach die moralische wie auch die Rechts-Pflicht, dagegen vorzugehen. Das Stasi-Syndrom – das haben meine Recherchen, wie auch die Gleichgesinnter ergeben – forderte inzwischen mehr Todesopfer als die Mauer.“ „Ein abenteuerlicher Vergleich“, kommentierte Journalistin Gabriele Oertel. Ihr Gesprächspartner war anderer Meinung: „Ein vergleichbares Problem. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Die knapp 300 Mauertoten sind 300 zu viel. Aber es sind inzwischen weitaus mehr, die durch die Stasi-Hysterie ihr Leben gelassen haben.“
Auch der letzte SED-Ministerpräsident Hans Modrow und der damalige Chef des DDR-Arbeitslosenverbandes Klaus Grehn beklagten die angeblich gestiegene Zahl von Freitoden durch den gesellschaftlichen Umbruch nach dem Ende der DDR.
Seither gibt es gern zitierte Kronzeugen für jene, die die Implosion der DDR als zeitweiligen Sieg einer weltweiten konterrevolutionären Verschwörung sehen möchten. Dass Opfer nicht gegeneinander aufrechenbar sind und die Gleichsetzung von an der Grenze getöteten Menschen mit jenen, die aus Verzweiflung freiwillig aus dem Leben schieden, ein zynischer Missgriff ist, wurde ausgeblendet. Ebenso unberücksichtigt blieben die Zahlen: 1989 wurden in der DDR 4294 Suizide erfasst, davon 2875 männliche und 1419 weibliche – weniger als jemals zuvor zwischen Ostsee und Erzgebirge.
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